Die Pfarrkirche St. Severin ist nicht weit vom Haus der Millowitschs entfernt. „Meine Kinder sind hier getauft und haben in dieser Kirche auch die Kommunion empfangen. Und heute werde ich hier aus der Bibel vorlesen.“
Schwer schreitet Willy Millowitsch durch den Kirchenraum zum Altar der kleinen romanischen Kirche.
„Ich hoffe, daß ich mit meiner Lesung die Bibel den Menschen etwas näherbringe. In theologischen Dingen bin ich ein Laie, und manches an der Heiligen Schrift wird für mich immer verborgen bleiben. Aber ich kann den Text lesen, wie ich ihn verstehe, und zeigen, was ich empfinde.“
Im Kerzenlicht erscheint die Gestalt des Schauspielers noch mächtiger. Seine Stimme erfüllt den Raum mit dem unverwechselbaren Klang, den jeder sofort erkennt: Willy Millowitsch spricht. Lebendig ist sein Vortrag, ein Mann in der großen Tradition der Geschichtenerzähler. Er berichtet von den Fischern, die nach ihrer Begegnung mit Jesus ihr Leben ändern und diesem nachfolgen, um von jetzt an Menschen zu fischen. Er leiht den Hirten seine Stimme, die auf dem Feld die Botschaft empfangen. Und er berührt den Gedanken an den Tod beim Vortrag des 103. Psalms:
„Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr.“
Fünfundachtzig Jahre ist er in diesem Frühjahr geworden, der große Mime des Volkstheaters. Wir besuchen ihn in seinem Haus in Lövenich, um eine Produktion mit Bibeltexten vorzubereiten. „Der Millowitsch liest Bibel“, schmunzelt er, während er im Manuskript blättert. „Da werden sich wieder einige wundern. Aber wir Kölner kennen unsere Bibel. In meiner Kindheit konnte noch jedes Kind auf der Straße den lateinischen Text der Messe. Der Kölner konnte Kölsch und Latein, aber kein Hochdeutsch.“
Die Textauswahl trägt eine sehr persönliche Handschrift. Neben dem Prolog des Johannesevangeliums „Im Anfang war das Wort“ und der Weihnachtsgeschichte liest Millowitsch auch das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“. „Mich hat dieser Text immer beschäftigt”, verrät er uns, „die Beziehung von Vätern und Söhnen ist ein altes Thema bei den Millowitschs. Seitdem mein Ururgroßvater, Franz Andreas Millowitsch, das Spielen zur Aufgabe der Millowitsch-Familie erklärt hat – damals noch mit Stockpuppen – ist jeder Generationswechsel eine einschneidende Erfahrung gewesen. Wir sind seit sechs Generationen zuständig für gute Laune und vergnügliche Unterhaltung. Aber jeder Millowitsch muß sich immer erneut beim Publikum seinen Erfolg erkämpfen. Mir ist es Ende der dreißiger Jahre genauso ergangen.“